1 MAR 2024 9pm - Schloss Leuk
NEOPHYTEN ![]() Photo: UMS'nJIP
neophyten Liederzyklus für Stimme, Blockflöten, Perkussion und Live-Elektronik (Audio & Video), 2023/2024, UA Text nach dem gleichnamigen Gedichtzyklus von Rolf Hermann aus dem Gedichtband „In der Nahaufnahme verwildern wir“ Dauer: ca. 80m
PROGRAMMNOTIZEN
Am Ende bleibt die Natur und das, was wir
vielleicht als die Ekstase der Wörter bezeichnen
können – die Dichtung.
Wie bei einer Versuchsanordnung wird das
(französische) Textmaterial zunächst einmal
gesichtet und vorgängig ins Deutsche «übersetzt».
Die Überführung geschieht maschinell,
mittels eines internetbasierten Translators, und
zwar über verschiedene Stationen: Durchlaufen
werden dabei jene Sprachen, mit
denen Rilke auf seinen Reisen in Berührung
gekommen ist, also, neben dem Französischen
und in alphabetischer Reihenfolge, das Arabische,
Dänische, Italienische,
Polnische, Russische,
Schwedische, Spanische und Tschechische.
Diese Reise durch die Idiome endet im
Deutschen und folgt den engen Vorgaben
der datenbankgestützten Übersetzungsmaschine,
die sich bei der Auswahl zwar auf
statistische Wahrscheinlichkeiten abstützt,
aber dadurch den lyrischen Kontext so gut wie
ausschliesst. Am Zielpunkt wartet ein Text als
Resultat eines Spiels der Zufälle. Die Verfremdung
schafft Distanz wie auch die Freiheit, sich
dieser Lieferung der Stillen Post mit
sprachspielerischen Methoden anzunehmen oder, der
Intuition folgend, bestimmte Zeilen
oder Wortgruppen
auszuwählen, assoziative Bezüge herzustellen
und der Eigendynamik der lyrischen Reflexion
und Textarbeit ihren Lauf zu lassen. Die
Würfel sind geworfen. (...) Mit der aleatorischen
formalen und sprachlichen Öffnung dehnt
sich auch das Spielfeld aus. (...) Steht im
Zyklus Les Roses die Rose «als
glückliches Ergebnis unserer bewussten
Züchtung (...) für eine durch Kunst geadelte
Natur und damit für die Kultur schaffende
Leistung des Menschen überhaupt», geht
Rolf Hermann in den als
Akrosticha gesetzten neophyten der Frage
nach, inwiefern und wie sich die
unbändige und invasive Kraft von Natur
und auch Poesie in Welt und
Mensch festzusetzen
vermag. In armenische
brombeere heisst es: «ein wort ist ein
weiter sprung/ beinah bodenlos aus mir heraus
(...)/ein andermal gar da bin ich/ eine
schwarzpulverseele die eine/reihe von
effekten zu/einer zündschnur eint». (...) Das
Spiel mit Verfremdung, Recherche und Intuition
erweist sich als eines des Pendelns zwischen
Nähe und Distanz. Dabei zeigt sich,
dass wie bei bildgebenden Verfahren im
Generellen auch bei der Textarbeit ein
besonders starkes Zoomen auf den Gegenstand
nicht zwingend zu mehr Nähe
führt, sondern geradezu eine grösstmögliche
Distanz generiert. Aber genau die
durch mikroskopische Verpixelung
entstandene Distanz ist der Katalysator
für Kreativität und Kreation. «in der
nahaufnahme verwildern wir» – dass diese Nähe auch
wilde Kräfte freisetzt, die sich über ein
Geflecht von Rhizomen rasend schnell
verbreiten, beschreibt nicht nur das
Gedicht asiatischer staudenknöterich aus
dem Zyklus neophyten, nein,
jene Freisetzung, wie sie wohl nur
von Lyrik «eingefangen» werden kann, ist ein
Grundmuster, das im vorliegenden Band
als Ganzem eingeschrieben ist. Gedichte
als Wagnis – diesem hat sich Rolf Hermann
erneut gestellt. Alejandro Hagen, aus: Nahaufnahmen,
in: Rolf Hermann, "In der Nahaufnahme verwildern
wir", p. 166-170
neophyten ist auch ein Liederzyklus für Stimme, Blockflöten, Perkussion und Elektronik (Audio & Video) von UMS'nJIP und dem spanischen Perkussionisten und Komponisten Luis Tabuenca (Barcelona). Rolf Hermann ist ein langjähriger künstlerischer Weggefährte von UMS'nJIP und hat die Komposition angeregt. Das Werk ist abendfüllend und sowohl als Ganzes wie auch in Teilen aufführbar: konzertant, performativ und/oder als Teil einer Lesung. Die Komposition Wild wuchernd, geradezu vegetativ berauschend springt uns der Zyklus "neophyten" an, mit dem Rolf Hermann auf Rilkes "Roses" antwortet - vital, zäh, kraftvoll, rätselhaft und urtümlich. Oder um Beat Mazenauer zu zitieren: Die Sprache (...) beginnt zu verwildern, sie samt Silben ab und formt sie zu neuen Worten, findet sich zu Bildern, die neophyt und ungewohnt, vital und frisch sind. Die Nahaufnahme, der konzentrierte Blick stellt auf die glatte Oberfläche scharf und nimmt so erst deren raue Struktur wahr.
Wovor stehen wir? Einerseits ist das Textmaterial
durch verstörend unlyrische Verfahren eingedampft
und durch strenge formale Spielregeln gebunden,
gleichzeitig rankt sich die Sprache der Gedichte
ungestört um die Gitter, wächst diese zu und breitet
sich schier ungebremst in unbekannte und merkwürdige
metaphorische Gefilde aus. Darauf antworten wir (UMS'nJIP & Luis Tabuenca)
einerseits mit drei archaischen Instrumenten:
Stimme, Flöte und Perkussion, aber auch - als
bewusstem Gegenpol - mit Elektronik - und mit einem
zwischen Komposition und Improvisation angesiedelten
Verfahren. Die Gedichte werden analysiert, auf ihren
Klang und Rhythmus, auf intertextuelle Bezüge, auf
ihre Hybris zwischen biologischem Beschrieb und
dichterischer Anverwandlung. Heraus kommt eine
zeitlich und in klaren Abschnitten strukturierte
80minütige dramaturgische Grossform, in welcher sich
die Sprache sinnlich, situativ und ausgesprochen
sensibel wie fragil einem Golem gleich aus
instrumentalen Klangfeldern heraus, aus einer
Ursuppe sozusagen, Schicht um Schicht schält, um
sich in einen virtuellen, klanglich gesprochen:
voraufgenommenen Raum - einem bedruckten Blatt
gleich - zu begeben.
So wie Rolf Hermanns Wunsch: „die
Sinnlichkeit und die Verletzlichkeit der Welt
in Worten erfahrbar zu machen“ gesellt sich zu
ihm der unsrige, dieselbe Sinnlichkeit und
Verletzlichkeit nun auch in
Klängen erfahrbar zu machen.
MITWIRKENDE LUIS TABUENCA, Perkussion UMS 'n JIP Ulrike Mayer-Spohn, Blockflöte/Elektronik Javier Hagen, Stimme/Elektronik BIOGRAPHIEN ![]() Photo: Forum Wallis UMS'nJIP (Ulrike Mayer-Spohn und Javier Hagen) ist ein Schweizer Duo für Neue Musik. Mit über 1300 Auftritten seit 2007 gehört UMS 'n JIP zu den weltweit aktivsten Ensembles für Neue Musik. Charakteristisch sind ihnen Multi- und Interdisziplinarität sowie ein international verzweigtes Netzwerk von Komponisten, Regisseuren, bildenden Künstlern, Autoren, Programmierern und Forschern, mit welchen sie regelmäßig zusammenarbeiten. Sie treten konzertant, szenisch, performativ, installativ und multimedial auf und arbeiten ästhetisch an der Schnittstelle zwischen europäischer und außereuropäischer Musik und zwischen musikalischer Avantgarde und Pop. Ulrike Mayer-Spohn (UMS) und Javier Hagen (JIP) haben beide klassische Musik (Dorothea Winter und Mike Svoboda resp. Roland Hermann und Nicolai Gedda), Komposition (Erik Oña, Wolfgang Rihm, Heiner Goebbels) sowie Audiodesign (Studio für Elektronische Musik Basel) in Holland (Den Haag), Deutschland (Karlsruhe), Italien (Ferrara) und der Schweiz (Basel, Zürich) studiert. Solistisch wie als Duo sind sie in den meisten Ländern Europas, den USA, in Australien, Russland und Fernost aufgetreten, wo sie insgesamt über 300 Werke in Zusammenarbeit mit Komponisten wie Péter Eötvös, Aribert Reimann, Mauricio Kagel, Huang Ruo, Guo Wenjing, Stefano Gervasoni, Vladimir Gorlinsky (ur-)aufgeführt und für internationale Rundfunk- und Fernsehanstalten aufgezeichnet haben. Ihre eigenen Kompositionen, darunter Ensemble-, Orchester-, Chor- und szenische Werke mit und ohne Elektronik, gewannen Preise an den Weimarer Frühjahrstagen für zeitgenössische Musik (2017), am Internationalen Musikfestival in Savona (2017), am London Ear Festival (2016), am Musikfestival Bern (2011), bei Culturescapes (2010), in Treviso (2011), am Music Village Mount Pelion (2011), beim Ise-Shima Kompositionswettbewerb in Japan (2023) und wurden von den Ensembles l'Arsenale, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Uroboros Ensemble, Ensemble Proton Bern, Basler Madrigalisten, Putni, dissonArt Ensemble, Taller Sonoro, Ensemble Nuove Musiche, Ensemble Via Nova, Ensemble Phoenix, Männerstimmen Basel, Amar Quartett unter der Leitung von Beat Furrer, Tsung Yeh, Mark Foster, Jürg Henneberger, Oliver Rudin, Titus Engel und Filippo Perocco gespielt. Ferner ist JIP der aktuelle Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Neue Musik (ISCM Switzerland), waltet im akademischen Rat der Akademie für Zeitgenössische Oper des Teatro Colón in Buenos Aires sowie im Nominationskomitee des Kyoto-Preises in Japan und arbeitete 2009-18 für die UNESCO-ICH-Kommission zur Aufarbeitung des Immateriellen Kulturguts (Intangible Cultural Heritage) des Kantons Wallis in der Schweiz. http://umsnjip.ch/, https://de.wikipedia.org/wiki/UMS_’n_JIP ![]() Photo: Luis Tabuenca Luis Tabuenca. Composer and percussionist Luis Tabuenca was born in Zaragoza, Spain. His music integrates elements from other disciplines, with compositions ranging from opera, installations, sound sculptures, films, ballet, chamber music and solo works. He studied at the Conservatories of Zaragoza, Barcelona, Amsterdam and the University of California at San Diego with Steven Schick, Philippe Manoury and Mark Dresser, also attending workshops with Tristan Murail, Carola Bauckholt, Rebecca Saunders and Alexander Schubert, among others. He is celebrated for his incomparable virtuosity, mastery and an extraordinary ability to blend composition and improvisation in his work. He has performed nationally and internationally with his own ensembles, as well with artists such as Peter Veale, Séverine Ballon, Naomi Sato, John Edwards, Hans Tammen, Dafna Naphtali, and Imre Thormann, among many others. The Wire magazine has praised Tabuenca for his instrumental creativity, “Tabuenca’s colourful percussion is involving, beautiful and immaculately sequenced.” The All about Jazz magazine noted that Tabuenca’s music is “full of nuanced drama, arresting tension and vibrant colors”. As a leader, he has released seven critically acclaimed recordings that feature his work as a composer and percussionist. He has recorded for Mode Records, Aural Terrains, Diatribe, Verso, Sinkro, Naucleshg and Acheulian Handaxe Records. He is co-founder and Artistic Director of the International Experimental Music Festival (FAT) and he has been Artist in Residence at the New York University, Electroacustic Music Days (Portugal), Canterbury University, and the Phonos Foundation, among others. Tabuenca has received awards and support for his creative projects from the Fulbright Commission, the Ministry of Culture of Spain, Government of Aragon, Institut Ramon Llull and the ICUB from Barcelona. Tabuenca has given lectures and workshops on composition, percussion and improvisation in numerous universities and cultural institutions, such as Goldsmith University, National University of Colombia, American University in Cairo, Bulgaria National Conservatory and New York University. https://luistabuenca.com/ ![]() Photo: Dirk Skiba Rolf Hermann. Geboren
1973 in Leuk, Kanton Wallis, lebt als
freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Er
schreibt Prosa, Lyrik,
Hörspiele, Spoken-Word- und Theatertexte. Das
Studium der Anglistik und Germanistik in
Fribourg und Iowa, USA, verdiente er sich
als Schafhirt im Simplongebiet. Neben
Einzellesungen aus seinen Büchern tritt
Hermann mit zwei weiteren Projekten auf:
der Mundart-Combo Die
Gebirgspoeten und der
Spoken-Rock-Formation Trio Chäslädeli. Sein
Schaffen wurde verschiedentlich
ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kulturpreis
der Stadt Biel (2017) und dem Literaturpreis
des Kantons Bern für den
Erzählband Flüchtiges Zuhause (2019).
Zahlreiche Auftritte in der Schweiz und darüber
hinaus: Buchmesse Leipzig, Book Fair Vilnius
(Lettland), Poetry Days der University of
Southern Indiana in Evansville
(USA), European Poetry Festival London,
Meridian Czernowitz (Ukraine), Hausacher
Leselenz (D), Literaturfestival
„Erzählzeit ohne Grenzen“ in Singen (D),
Literaturhaus Stuttgart, w.orte Lyrikfestival
Innsbruck (Ö), Innsbrucker Prosafestival
(Ö), Literaturhaus
Niederösterreich, Literaturgesellschaft
Wien, Internationales Literaturfestival
Leukerbad, Solothurner Literaturtage,
Literarischer Herbst Gstaad,
lauschig Winterthur, Salon du Livre Genf,
Aprillen Bern, Literaturfest Bern,
Internationales Lyrikfestival Basel,
Literaturhaus Zürich, Literaturhaus
Gottlieben, Literaturhaus Liechtenstein,
Literaturhaus Zentralschweiz, Tojo
Theater Bern, Le Singe Biel, Kreuzkultur
Nidau, Literaare Thun, Die Literarischer
Biel, Kaufleuten Zürich, Zürich
liest, Buchbasel, wortlaut St. Gallen,
Zentralschweizer Literaturtage auf der Rigi,
Philosophicum Basel, Kleintheater Luzern,
Kleine Bieler Büchermesse, Loge Luzern,
Café Kairo, Mundartfestival Arosa,
Kulturgarage Interlaken, Chäslager Stans,
Stiftung Rilke Sierre, Zeughauskultur
Brig, Matterhorn-Museum Zermatt, Schloss
Leuk, Roggenzentrum Erschmatt, Burgerstube
Albinen. https://rolfhermann.ch, https://de.wikipedia.org/wiki/Rolf_Hermann
PHOTOS ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]()
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