1 MAR 2024 9pm - Schloss Leuk

NEOPHYTEN





Photo: UMS'nJIP




PROGRAMM

UMS `n JIP & Luis Tabuenca
neophyten


Liederzyklus
für Stimme, Blockflöten, Perkussion
und Live-Elektronik (Audio & Video), 2023/2024, UA
Text nach dem gleichnamigen Gedichtzyklus von Rolf Hermann
aus dem Gedichtband „In der Nahaufnahme verwildern wir“

Dauer: ca. 80m



PROGRAMMNOTIZEN

Am Ende bleibt die Natur und das, was wir vielleicht als die Ekstase der Wörter bezeichnen können – die Dichtung.

Rolf Hermann


neophyten ist zunächst einmal ein 24teiliger Gedichtzyklus aus dem Gedichtband „In der Nahaufnahme verwildern wir“ (2021) von Rolf Hermann, der sich strukturell an Rainer Maria Rilkes Gedichtzyklus "Les Roses" anlehnt. Neophyten sind Pflanzen, die sich in Gebieten ansiedeln, in denen sie zuvor nicht heimisch waren. Für Rolf Hermann sind sie eine Erscheinung der globalisierten Welt und der Klimaveränderung in einem. Pflanzen werden – absichtlich oder versehentlich – auf Tankern oder Lastwagen von einem Kontinent zum anderen, von einem Land zum anderen transportiert. Und weil sich das Klima erwärmt, wandern sie oft weiter, von Süden in Richtung Norden, und verändern so die jeweilige Vegetation. In gewisser Weise sind die Neophyten für mich also Chiffren für das Anthropozän, für ein vom Menschen verursachtes biologisches Phänomen, das sich weitgehend verselbstständigt hat.


Wie bei einer Versuchsanordnung wird das (französische) Textmaterial zunächst einmal gesichtet und vorgängig ins Deutsche «übersetzt». Die Überführung geschieht maschinell, mittels eines internetbasierten Translators, und zwar über verschiedene Stationen: Durchlaufen werden dabei jene Sprachen, mit denen Rilke auf seinen Reisen in Berührung gekommen ist, also, neben dem Französischen und in alphabetischer Reihenfolge, das Arabische, Dänische, Italienische, Polnische, Russische, Schwedische, Spanische und Tschechische. Diese Reise durch die Idiome endet im Deutschen und folgt den engen Vorgaben der datenbankgestützten Übersetzungsmaschine, die sich bei der Auswahl zwar auf statistische Wahrscheinlichkeiten abstützt, aber dadurch den lyrischen Kontext so gut wie ausschliesst. Am Zielpunkt wartet ein Text als Resultat eines Spiels der Zufälle. Die Verfremdung schafft Distanz wie auch die Freiheit, sich dieser Lieferung der Stillen Post mit sprachspielerischen Methoden anzunehmen oder, der Intuition folgend, bestimmte Zeilen oder Wortgruppen auszuwählen, assoziative Bezüge herzustellen und der Eigendynamik der lyrischen Reflexion und Textarbeit ihren Lauf zu lassen. Die Würfel sind geworfen. (...) Mit der aleatorischen formalen und sprachlichen Öffnung dehnt sich auch das Spielfeld aus. (...) Steht im Zyklus Les Roses die Rose «als glückliches Ergebnis unserer bewussten Züchtung (...) für eine durch Kunst geadelte Natur und damit für die Kultur schaffende Leistung des Menschen überhaupt», geht Rolf Hermann in den als Akrosticha gesetzten neophyten der Frage nach, inwiefern und wie sich die unbändige und invasive Kraft von Natur und auch Poesie in Welt und Mensch festzusetzen vermag. In armenische brombeere heisst es: «ein wort ist ein weiter sprung/ beinah bodenlos aus mir heraus (...)/ein andermal gar da bin ich/ eine schwarzpulverseele die eine/reihe von effekten zu/einer zündschnur eint». (...) Das Spiel mit Verfremdung, Recherche und Intuition erweist sich als eines des Pendelns zwischen Nähe und Distanz. Dabei zeigt sich, dass wie bei bildgebenden Verfahren im Generellen auch bei der Textarbeit ein besonders starkes Zoomen auf den Gegenstand nicht zwingend zu mehr Nähe führt, sondern geradezu eine grösstmögliche Distanz generiert. Aber genau die durch mikroskopische Verpixelung entstandene Distanz ist der Katalysator für Kreativität und Kreation. «in der nahaufnahme verwildern wir» – dass diese Nähe auch wilde Kräfte freisetzt, die sich über ein Geflecht von Rhizomen rasend schnell verbreiten, beschreibt nicht nur das Gedicht asiatischer staudenknöterich aus dem Zyklus neophyten, nein, jene Freisetzung, wie sie wohl nur von Lyrik «eingefangen» werden kann, ist ein Grundmuster, das im vorliegenden Band als Ganzem eingeschrieben ist. Gedichte als Wagnis – diesem hat sich Rolf Hermann erneut gestellt.

Alejandro Hagen, aus: Nahaufnahmen, in: Rolf Hermann, "In der Nahaufnahme verwildern wir", p. 166-170



Eine musikalische Interpretation einer literarischen Anverwandlung Rilke ́scher Gedichte

neophyten ist auch ein Liederzyklus für Stimme, Blockflöten, Perkussion und Elektronik (Audio & Video) von UMS'nJIP und dem spanischen Perkussionisten und Komponisten Luis Tabuenca (Barcelona). Rolf Hermann ist ein langjähriger künstlerischer Weggefährte von UMS'nJIP und hat die Komposition angeregt. Das Werk ist abendfüllend und sowohl als Ganzes wie auch in Teilen aufführbar: konzertant, performativ und/oder als Teil einer Lesung.



Die Komposition

Wild wuchernd, geradezu vegetativ berauschend springt uns der Zyklus "neophyten" an, mit dem Rolf Hermann auf Rilkes "Roses" antwortet - vital, zäh, kraftvoll, rätselhaft und urtümlich. Oder um Beat Mazenauer zu zitieren: Die Sprache (...) beginnt zu verwildern, sie samt Silben ab und formt sie zu neuen Worten, findet sich zu Bildern, die neophyt und ungewohnt, vital und frisch sind. Die Nahaufnahme, der konzentrierte Blick stellt auf die glatte Oberfläche scharf und nimmt so erst deren raue Struktur wahr.

Wovor stehen wir? Einerseits ist das Textmaterial durch verstörend unlyrische Verfahren eingedampft und durch strenge formale Spielregeln gebunden, gleichzeitig rankt sich die Sprache der Gedichte ungestört um die Gitter, wächst diese zu und breitet sich schier ungebremst in unbekannte und merkwürdige metaphorische Gefilde aus.

Darauf antworten wir (UMS'nJIP & Luis Tabuenca) einerseits mit drei archaischen Instrumenten: Stimme, Flöte und Perkussion, aber auch - als bewusstem Gegenpol - mit Elektronik - und mit einem zwischen Komposition und Improvisation angesiedelten Verfahren. Die Gedichte werden analysiert, auf ihren Klang und Rhythmus, auf intertextuelle Bezüge, auf ihre Hybris zwischen biologischem Beschrieb und dichterischer Anverwandlung. Heraus kommt eine zeitlich und in klaren Abschnitten strukturierte 80minütige dramaturgische Grossform, in welcher sich die Sprache sinnlich, situativ und ausgesprochen sensibel wie fragil einem Golem gleich aus instrumentalen Klangfeldern heraus, aus einer Ursuppe sozusagen, Schicht um Schicht schält, um sich in einen virtuellen, klanglich gesprochen: voraufgenommenen Raum - einem bedruckten Blatt gleich - zu begeben.

So wie Rolf Hermanns Wunsch: „die Sinnlichkeit und die Verletzlichkeit der Welt in Worten erfahrbar zu machen“ gesellt sich zu ihm der unsrige, dieselbe Sinnlichkeit und Verletzlichkeit nun auch in Klängen erfahrbar zu machen.


neophyten


armenische brombeere - rubus armeniacus
asiatischer staudenknöterich - reynoutria japonica
blauglockenbaum - paulownia tomentosa
brasilianisches tausendblatt - myriophyllum aquaticum
drüsiges springkraut - impatiens glandulifera
einjähriges berufkraut - erigeron annuus
essigbaum - rhus typhina
falsche akazie - robinia pseudoacacia

gewöhnliche jungfernrebe - parthenocissus inserta
götterbaum - ailanthus altissima
grossblütiges heusenkraut - ludwigia grandiflora
henrys geissblatt - lonicera henryi
herbst-traubenkirsche - prunus serotina
himalaja-knöterich - polygonum polystachyum
jakobs-kreuzkraut - senecio jacobaea

kanadische wasserpest - elodea canadensis
kirschlorbeer - prunus laurocerasus
riesen-bärenklau - heracleum mantegazzianum
schmalblättriges kreuzkraut - senecio inaequidens
schmetterlingsstrauch - buddleja davidii
spätblühende goldrute - solidago gigantea

syrische seidenpflanze - asclepias syriaca
traubenkraut - ambrosia artemisiifolia
verlotschter beifuss - artemisia verlotiorum




MITWIRKENDE

LUIS TABUENCA, Perkussion

UMS 'n JIP
Ulrike Mayer-Spohn, Blockflöte/Elektronik
Javier Hagen, Stimme/Elektronik






BIOGRAPHIEN




Photo: Forum Wallis

UMS'nJIP (Ulrike Mayer-Spohn und Javier Hagen) ist ein Schweizer Duo für Neue Musik. Mit über 1300 Auftritten seit 2007 gehört UMS 'n JIP zu den weltweit aktivsten Ensembles für Neue Musik. Charakteristisch sind ihnen Multi- und Interdisziplinarität sowie ein international verzweigtes Netzwerk von Komponisten, Regisseuren, bildenden Künstlern, Autoren, Programmierern und Forschern, mit welchen sie regelmäßig zusammenarbeiten. Sie treten konzertant, szenisch, performativ, installativ und multimedial auf und arbeiten ästhetisch an der Schnittstelle zwischen europäischer und außereuropäischer Musik und zwischen musikalischer Avantgarde und Pop. Ulrike Mayer-Spohn (UMS) und Javier Hagen (JIP) haben beide klassische Musik (Dorothea Winter und Mike Svoboda resp. Roland Hermann und Nicolai Gedda), Komposition (Erik Oña, Wolfgang Rihm, Heiner Goebbels) sowie Audiodesign (Studio für Elektronische Musik Basel) in Holland (Den Haag), Deutschland (Karlsruhe), Italien (Ferrara) und der Schweiz (Basel, Zürich) studiert. Solistisch wie als Duo sind sie in den meisten Ländern Europas, den USA, in Australien, Russland und Fernost aufgetreten, wo sie insgesamt über 300 Werke in Zusammenarbeit mit Komponisten wie Péter Eötvös, Aribert Reimann, Mauricio Kagel, Huang Ruo, Guo Wenjing, Stefano Gervasoni, Vladimir Gorlinsky (ur-)aufgeführt und für internationale Rundfunk- und Fernsehanstalten aufgezeichnet haben. Ihre eigenen Kompositionen, darunter Ensemble-, Orchester-, Chor- und szenische Werke mit und ohne Elektronik, gewannen Preise an den Weimarer Frühjahrstagen für zeitgenössische Musik (2017), am Internationalen Musikfestival in Savona (2017), am London Ear Festival (2016), am Musikfestival Bern (2011), bei Culturescapes (2010), in Treviso (2011), am Music Village Mount Pelion (2011), beim Ise-Shima Kompositionswettbewerb in Japan (2023) und wurden von den Ensembles l'Arsenale, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Uroboros Ensemble, Ensemble Proton Bern, Basler Madrigalisten, Putni, dissonArt Ensemble, Taller Sonoro, Ensemble Nuove Musiche, Ensemble Via Nova, Ensemble Phoenix, Männerstimmen Basel, Amar Quartett unter der Leitung von Beat Furrer, Tsung Yeh, Mark Foster, Jürg Henneberger, Oliver Rudin, Titus Engel und Filippo Perocco gespielt. Ferner ist JIP der aktuelle Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Neue Musik (ISCM Switzerland), waltet im akademischen Rat der Akademie für Zeitgenössische Oper des Teatro Colón in Buenos Aires sowie im Nominationskomitee des Kyoto-Preises in Japan und arbeitete 2009-18 für die UNESCO-ICH-Kommission zur Aufarbeitung des Immateriellen Kulturguts (Intangible Cultural Heritage) des Kantons Wallis in der Schweiz. http://umsnjip.ch/, https://de.wikipedia.org/wiki/UMS_’n_JIP



Photo: Luis Tabuenca

Luis Tabuenca. Composer and percussionist Luis Tabuenca was born in Zaragoza, Spain. His music integrates elements from other disciplines, with compositions ranging from opera, installations, sound sculptures, films, ballet, chamber music and solo works. He studied at the Conservatories of Zaragoza, Barcelona, Amsterdam and the University of California at San Diego with Steven Schick, Philippe Manoury and Mark Dresser, also attending workshops with Tristan Murail, Carola Bauckholt, Rebecca Saunders and Alexander Schubert, among others. He is celebrated for his incomparable virtuosity, mastery and an extraordinary ability to blend composition and improvisation in his work. He has performed nationally and internationally with his own ensembles, as well with artists such as Peter Veale, Séverine Ballon, Naomi Sato, John Edwards, Hans Tammen, Dafna Naphtali, and Imre Thormann, among many others. The Wire magazine has praised Tabuenca for his instrumental  creativity, “Tabuenca’s colourful percussion is involving, beautiful and immaculately sequenced.” The All about Jazz magazine noted that Tabuenca’s music is “full of nuanced drama, arresting tension and vibrant colors”. As a leader, he has released seven critically acclaimed recordings that feature his work as a composer and percussionist. He has recorded for Mode Records, Aural Terrains, Diatribe, Verso, Sinkro, Naucleshg and Acheulian Handaxe Records. He is co-founder and Artistic Director of the International Experimental Music Festival (FAT) and he has been Artist in Residence at the New York University, Electroacustic Music Days (Portugal), Canterbury University, and the Phonos Foundation, among others. Tabuenca has received awards and support for his creative projects from the Fulbright Commission, the Ministry of Culture of Spain, Government of Aragon, Institut Ramon Llull and the ICUB from Barcelona. Tabuenca has given lectures and workshops on composition, percussion and improvisation in numerous universities and cultural institutions, such as Goldsmith University, National University of Colombia, American University in Cairo, Bulgaria National Conservatory and New York University. https://luistabuenca.com/




Photo: Dirk Skiba


Rolf Hermann. Geboren 1973 in Leuk, Kanton Wallis, lebt als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Er schreibt Prosa, Lyrik, Hörspiele, Spoken-Word- und Theatertexte. Das Studium der Anglistik und Germanistik in Fribourg und Iowa, USA, verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Neben Einzellesungen aus seinen Büchern tritt Hermann mit zwei weiteren Projekten auf: der Mundart-Combo Die Gebirgspoeten und der Spoken-Rock-Formation Trio Chäslädeli. Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kulturpreis der Stadt Biel (2017) und dem Literaturpreis des Kantons Bern für den Erzählband Flüchtiges Zuhause (2019). Zahlreiche Auftritte in der Schweiz und darüber hinaus: Buchmesse Leipzig, Book Fair Vilnius (Lettland), Poetry Days der University of Southern Indiana in Evansville (USA), European Poetry Festival London, Meridian Czernowitz (Ukraine), Hausacher Leselenz (D), Literaturfestival „Erzählzeit ohne Grenzen“ in Singen (D), Literaturhaus Stuttgart, w.orte Lyrikfestival Innsbruck (Ö), Innsbrucker Prosafestival (Ö), Literaturhaus Niederösterreich, Literaturgesellschaft Wien, Internationales Literaturfestival Leukerbad, Solothurner Literaturtage, Literarischer Herbst Gstaad, lauschig Winterthur, Salon du Livre Genf, Aprillen Bern, Literaturfest Bern, Internationales Lyrikfestival Basel, Literaturhaus Zürich, Literaturhaus Gottlieben, Literaturhaus Liechtenstein, Literaturhaus Zentralschweiz, Tojo Theater Bern, Le Singe Biel, Kreuzkultur Nidau, Literaare Thun, Die Literarischer Biel, Kaufleuten Zürich, Zürich liest, Buchbasel, wortlaut St. Gallen, Zentralschweizer Literaturtage auf der Rigi, Philosophicum Basel, Kleintheater Luzern, Kleine Bieler Büchermesse, Loge Luzern, Café Kairo, Mundartfestival Arosa, Kulturgarage Interlaken, Chäslager Stans, Stiftung Rilke Sierre, Zeughauskultur Brig, Matterhorn-Museum Zermatt, Schloss Leuk, Roggenzentrum Erschmatt, Burgerstube Albinen. https://rolfhermann.ch, https://de.wikipedia.org/wiki/Rolf_Hermann





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