10 AUG 2020, 7pm - Schloss Leuk

ENSEMBLE RECHERCHE

 

by Marc Doradzillo

 

Seit 1985 widmen sich die Mitglieder des ensemble recherche dem Neuen und Unbekannten. Über den Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten, mit über 600 Uraufführungen und rund 50 CD-Einspielungen, hat das Freiburger Ensemble musikalische Gegenwart gestaltet und Musikgeschichte geschrieben. Die acht Musikerinnen und Musiker – allesamt international konzertierende Solisten im Bereich der Neuen Musik – verbindet die große Lust am Experimentieren und die Begeisterung für die intensive Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Die acht Solistinnen und Solisten stellen ihre enorme Musikalität und ihre individuellen Persönlichkeiten in den Dienst des Kollektivs, um gemeinsam, als Ensemble, an der musikalischen Gegenwart zu forschen. Dem hohen Elan und dem persönlichen Einsatz jedes und jeder Einzelnen ist es zu verdanken, dass sich das freie Ensemble in über drei Jahrzehnten zu einem der wichtigsten Akteure der Neuen Musik etabliert hat. Das ensemble recherche wird von der Stadt Freiburg und dem Land Baden-Württemberg gefördert. http://ensemble-recherche.de



MITWIRKENDE

Shizuyo Oka, Klarinette
Melise Mellinger, Violine
Åsa Åkerberg, Violoncello




PROGRAMM


Claude Vivier
Pièce pour violon et clarinette

Johannes Schöllhorn
a self-same-song

Gérard Pesson
Bruissant divisé


Tomoko Fukui
doublet + 1

Rebecca Saunders
„Hauch“, study for violin solo

Lisa Streich
Asche


Tobias Krebs
Fries (UA)




WERKKOMMENTARE

Tobias Krebs: Fries.
„Fries“ bezeichnet in der Architektur ein waagrechtes, schmales Stilelement an der Fassade, welches aus dekorativen, sich rhythmisch wiederholenden Ornamenten besteht. Berühmte Friese sind z.B. an antiken Tempeln anzutreffen. Metaphorisch gesehen ist der architektonische Fries somit eine treffende Beschreibung für musikalische Texturen, welche von Weitem betrachtet relativ statisch aussehen, sich jedoch im Detail als äusserst vielfältig, bunt und komplex entpuppen. Die drei Instrumente Klarinette, Violine und Violoncello vereinen sich auf mikropolyphone Weise zu einem kaleidoskop-artigen und mobile-artigen Flechtwerk, immerfort sich verlierend und findend, sich entfremdend und annährend. Die in der Besetzung innewohnende Asymmetrie bezüglich Spielweise (Klarinette vs. Streicher) und Registerlage (Violine/Klarinette vs. Violoncello) werden im Stück so weit als möglich aufgehoben und die Instrumente verweben sich in ornamenthafter Manier mithilfe verschiedenster Triller, Arpeggien und Tremoli - der erstarrte Fries löst sich auf in quecksilbriges Flirren und Flimmern.

Tomoko Fukui: Doublet + 1.
2010 komponierte ich „doublet“ für das Takefu Musikfestival. Die Absicht dieses Stücks war, die beiden Interpreten in eine intensive Bezeigung und einen angespannten Zustand zueinander zu stellen. Die beiden Teile des Stücks werden abwechselnd wiederholt und dabei einigen Änderungen unterzogen: im Mittelpunkt des einen stehen (vertikale) Akkorde, im anderen ist der Fokus auf die Bewegung horizontaler Linien gerichtet. Während die beiden Teile verändert werden, bleiben die Ausführenden ständig in enger Beziehung zueinander. Das Wort „doublet“ im Titel meint ein Gespann oder ein Paar. Nach Fertigstellung des Werks bemerkte ich zufällig, dass dies genau der Name ist, den Lewis Carroll, der Autor von „Alice im Wunderland“, für ein Wortspiel nutzte. Die Puzzle-Technik in meiner Arbeit, um Neues durch Änderung von Note zu Note entstehen zu lassen, ist jener von Carrolls Wortspiel sehr ähnlich. „doublet + 1“ wurde um eine Klarinette erweitert. Tomoko Fukui

Lisa Streich: ASCHE. Die 1985 in Schweden geborene Komponistin und Organistin Lisa Streich trägt den spirituellen Hintergrund ihrer Musik nicht missionarisch vor sich her. Neben tief existenziellen Fragen prägen ihr Schaffen auch Alltägliches und Einfaches. Doch selbst ohne programmatische Titel, Texte und Kommentare hört man ihren Werken an, dass es um Wesentliches geht. Dabei verdankt sich die Ausdruckskraft ihrer Musik klar gesetzten Materialien und differenzierten Strukturen. [...] Während sich der Titel ASCHE für Klarinette und Violoncello (2012) mehrdeutig auf Verbranntes, die Fastenzeit oder profan-umgangssprachlich auf Geld bezieht, sind Satztechnik und Form des Stücks umso eindeutiger gestaltet als ein Prozess der gegenseitigen Annäherung des Blas- und Streichinstruments über alle klangliche Differenz und räumliche Distanz hinweg. Das mittig auf der Bühne platzierte Cello und die möglichst weit rechts davon entfernte Klarinette spielen anfangs konsequent abwechselnd. Dadurch kommen sie zwar nie simultan zusammen, verzahnen sich aber nahtlos zu einer einstimmigen Linie, bis die Instrumente schließlich durch erweiterte Spielpraktiken, Mehrklänge und Unisoni in hoher Lage miteinander verschmelzen. Man kann diese instrumentale Anamorphose theologisch als Aufhebung des prinzipio individuationis deuten, braucht dies aber nicht, denn der rein musikalische Vorgang und die sirrenden Schwebungen und Differenztöne, die sich sehr physisch und durchaus quälend dem Gehör einschreiben, sind bereits spannend genug. Rainer Nonnenmann

Rebecca Saunders: Hauch. Wie mag es sich anfühlen, vom Heiligen Geist berührt zu werden? Die Vorstellung, tanzende Flammen auf dem Kopf zu haben, wie in manchen bildlichen Darstellungen, ist eher unangenehm. Ikonographisch schwer darstellbar, aber als Metapher sehr wirksam, ist das Bild des »Hauchs«. Die Berührung durch den Lufthauch, den Wind, den Atem, ist ein einprägsames Bild für die Berührung mit einem per definitionem unberührbaren Gegenstand. [...] „Der Klang ist fragil, aber auch aggressiv und belastbar“, schreibt der Musikwissenschaftler Björn Gottstein über Rebecca Saunders: „Ein solcher Klang, der bereits einen Widerspruch in sich trägt, ist vielleicht die sinnfälligste Veranschaulichung der saundersschen Dialektik, aus der heraus sich ihr ganzer Klangkosmos fassen lässt.“ Neben ihrem Violinkonzert still, hat die 2019 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnete Künstlerin vor Kurzem mit Hauch ein kurzes Solostück komponiert. Saunders spielt selbst auch Violine und sie hat „ihrem Instrument“ hier neue, extreme Nuancen abgelauscht: Der Bogen zieht den Klang aus der Stille; die geringste Veränderung der Berührung der Saite, die Ausdehnung der Muskeln zwischen den Schulterblättern, das Einatmen des Spielers, das dem gespielten Ton vorangeht… Der fehlbare menschliche Körper hinter dem Klang: das Gewicht des Klangs fühlen, indem man das Wesen einer Klangfarbe erkundet. Der Umstand, dass sich das Wort Hauch nicht mit einem genauen Begriff in die Muttersprache von Rebecca Saunders, das Englische, übertragen lässt, verleiht dem Titel selbst jene Aura, deren Schimmer Rebecca Saunders hier zu fassen sucht. Patrick Hahn

Johannes Schöllhorn: a self-same-song, after "A Foggy Day" by George Gershwin for Gareth Davis' "American Songbook". Was hat Narziss gesehen, als er von oben ins Wasser blickte? Sich selbst oder jemand anderen, ein Bild oder eine spiegelnde Oberfläche? Die Entdeckung der Selbstähnlichkeit ist eine vertrackte Sache, manch ein nebliger Tag entpuppt sich plötzlich als Sonnenschein und ein self-same-song entdeckt den gespenstischen Charme einer Melodie George Gershwins, in deren Text das British Museum diesen gerade verliert. Johannes Schöllhorn

Gerard Pesson: Bruissant divisé. Dieses Werk wurde für einen Dokumentarfilm von Maurice Rabinovisz über Proust und Musik, A la recherche de la sonate de Vinteuil, komponiert. Der Produzent Guy Darbois hatte vier Komponisten (Régis Campo, Marius Constant, Philippe Hersant und mich) eingeladen, sich vorzustellen, was ihre eigene "petite phrase" oder "kleine Phrase" sein würde. Anstatt eine Hypothese über Vinteuils Fis-Sonate zu schreiben, beschloss ich, ihm zu huldigen, da er mein Lehrer war. Den Titel entlehnte ich einer Beschreibung der "petite phrase" (intercalée, épisodique, bruissante (was "Rauschen" oder "Summen" und divisée bedeutet), und die Musik folgt Prousts sehr detaillierter Beschreibung von Vinteuils Musik, einschließlich des Septetts aus dem "violetten Nebel" seiner letzten Periode, insbesondere der "ständigen Erinnerung" an zwei Noten, dem "melancholischen, unaufhörlich schnellen Satz", die "Motive, die von Zeit zu Zeit kurz auftauchen, kaum erkennbar, bevor sie wieder eintauchen und verschwinden" - die "Liquidität", das "Schmelzen", die "bittere Stille", "unendlich leer", "süß, aber nicht friedlich", "zurückgezogen und kühl", "die Geräusche, die sich in einem Augenblick ändern können und zu einem Schatten werden", bis hin zu dem "sanften Hintergrund der Stille, der einige von Schumanns Träumereien beruhigen kann". Gerard Pesson




KOMPONISTEN


Tomoko Fukui
http://kinoko2001.music.coocan.jp/CCP029.html

Johannes Schöllhorn
https://johannes-schoellhorn.de





MUSIKERBIOGRAPHIEN

Shizuyo Oka studierte Klarinette bei Michel Arrignon und Bassklarinette bei Jean-Noel Crocq am Conservatoire National Supérieur de Paris und schloss mit drei 1er Prix für Klarinette, Bassklarinette und Kammermusik ab. 2000-2001 musizierte sie zusammen mit Yo-Yo Ma in dem von ihm gegründeten Silk-Road Ensemble. Seit 1998 ist sie Mitglied des ensemble recherche. Ihre solistischen Tätigkeiten bestanden unter anderem aus Solokonzerten mit dem Josef Suk-Orchester Prag, Tokyo-Sinfonieorchester, Orchestre philharmonique du Luxembourg sowie dem Spanish Radiotelevision Orchestra. Ihr wurden zudem viele Solo-Stücke gewidmet, unter anderem von Georgy Kúrtag, Toshio Hosokawa und Mark Andre.
Neben ihrer ausgedehnten Konzerttätigkeit mit dem ensemble recherche unterrichtete sie im Rahmen von Meisterkursen an Hochschulen in der ganzen Welt (Österreich, Frankreich ,Schweiz, Deutschland, Japan, Mexiko, Russland, Ukraine, China, Südamerika, USA ...). Außerdem lehrt sie als Dozentin jedes Jahr an der Ensemble-Akademie Freiburg seit 2003.

Melise Mellinger studierte Violine an der Hochschule für Musik Freiburg bei Professor Wolfgang Marschner und am Sweelinck-Konservatorium in Amsterdam bei Professor Herman Krebbers. Vier Jahre lang war sie Mitglied des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters, bevor sie als Gründungsmitglied zum ensemble recherche wechselte. Durch die daraus entstandene enge Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten ist sie Interpretin zahlreicher Uraufführungen und wirkt regelmäßig bei Aufnahmen für Rundfunk und Tonträger mit, darunter Luigi Nonos „La lontananza nostalgica utopica futura“ in Zusammenarbeit mit Salvatore Sciarrino. Neben internationalen Konzerttourneen ist sie auch weltweit als Dozentin aktiv, z.B. in Lemberg, Kiew, Moskau, Peking, Tashkent, Mexiko und Südamerika. Von 2000 bis 2010 gab sie außerdem Kurse an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main und bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. Seit 2004 unterrichtet sie an der Ensemble-Akademie Freiburg.

Åsa Åkerberg kommt aus Stockholm. Sie studierte am Sveriges Radios Musikinstitut bei Frans Helmersson sowie an der Hochschule der Künste und der Karajan Akademie in Berlin. Sie war Solocellistin an der Stockholmer Oper (1983 bis 1989) und in der Västerås Sinfonietta (seit 1995). Als festes Mitglied spielte sie u.a. im Kammarensemblen und im Stockholms Barockorkester. Seit Januar 2006 Cellistin des ensemble recherche.